Warum brauchen wir die Reform so dringend?
Zivilgesellschaftliches Engagement in Deutschland leidet unter dem völlig veralteten Gemeinnützigkeitsrecht – und zwar gleich mehrfach:
- Politisches Engagement wird beschnitten: Ein Umweltschutzverein, der sich mit Petitionen, Protesten und gezielten Gesprächen mit Politiker*innen für besseren ÖPNV einsetzen möchte, läuft Gefahr, seinen gemeinnützigen Status zu verlieren. Denn dieses politische Engagement muss laut der aktuellen Regeln für die Finanzämter gegenüber den anderen Aktivitäten des Vereins „in den Hintergrund“ treten. Diese Formulierung ist völlig ungenau. Vereine können sich nie sicher sein, wie das Finanzamt diesen Begriff definieren wird und wie es bei der nächsten Prüfung entscheiden wird. Die Regelung beschneidet wichtiges, ehrenamtliches Engagement unverhältnismäßig. Gemeinnützige Organisationen haben nicht die Freiheit, selbst zu entscheiden, wie sie einen wichtigen Beitrag leisten wollen. Nehmen wir das Beispiel Klimaschutz: Es ist kaum möglich, diesen Zweck sinnvoller zu fördern als mit dem Versuch, Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen. Warum sollte sich ein Klimaschutzverein beispielsweise nicht darauf konzentrieren dürfen, für gute Klimagesetze zu streiten – mit Demos und Lobbygesprächen?
- Vereine finden keine passenden Zwecke: Wer gemeinnützig werden will, muss sich einen Zweck aus dem Gemeinnützigkeitsrecht – der sogenannten Abgabenordnung – aussuchen. Aber diese Liste ist längst nicht mehr aktuell, es fehlen so wichtige Zwecke wie die Förderung der Grund- und Menschenrechte, der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit. Das sind Betätigungsfelder, die eine zentrale Bedeutung für unsere Demokratie haben.
- Politische Bildung massiv eingeschränkt: Eine Folge des Urteils vom Bundesfinanzhof (BFH) gegen Attac ist, dass politische Bildungsarbeit auf sehr problematische Art und Weise beschnitten wurde. Der BFH hat betroffenen Bildungseinrichtungen nämlich auferlegt, in „geistiger Offenheit“ zu arbeiten. Konkret definiert hat der BFH dieses Kriterium nicht, sodass ein diffuses und damit gefährliches Neutralitätsgebot entstanden ist. So ist beispielsweise unklar, ob ein Verein noch versuchen darf, Menschen davon zu überzeugen, dass wir nicht in einer Corona-Diktatur, sondern in einer partizipativen Demokratie leben. Ein Umweltschutzverein hingegen darf sich dafür einsetzen, dass der Klimawandel als menschengemachtes Problem wahrgenommen wird. Dieser doppelte Standard ist widersprüchlich und ungerecht – und muss schnellstens behoben werden, damit politische Bildner*innen ihrer wichtigen Arbeit nachgehen können.
- Einstehen für unsere Demokratie schwer möglich: Manche Ereignisse erfordern, dass wir als Zivilgesellschaft zusammenstehen – beispielsweise um ein Zeichen der Solidarität gegen Rassismus zu setzen oder gegen den Angriffskrieg in der Ukraine auf die Straße zu gehen. Bisher war das für gemeinnützige Vereine nur schwer möglich, denn sie durften nicht einmal zu aktuellen Anlässen außerhalb ihrer Betätigungsfelder arbeiten. Ein Sportverein durfte nicht zu einer Anti-Rassismus-Kundgebung aufrufen, ein Karnevalsverein nicht an einer Friedensdemo teilnehmen. Das hat das Bundesfinanzministerium zwar etwas entschärft, indem es die Finanzämter angewiesen hat, hier großzügig zu sein. Rechtssicherheit besteht aber erst, wenn diese Regelung auch im Gemeinnützigkeitsrecht aufgenommen ist.
Zusammengenommen schwächen diese schlechten Voraussetzungen vor allem Vereine, die sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen – das hat die Europäische Kommission in ihrem Rechtsstaatlichkeitsbericht über Deutschland im vergangenen Jahr festgestellt. Demnach schrauben betroffene Vereine ihr Engagement bereits zurück – aus Angst, ihren gemeinnützigen Status zu verlieren.
Zudem werden sie Opfer von gezielten Angriffen, meist aus dem rechten Spektrum. So haben in einer aktuellen Studie des Deutschen Zentrum für Integration- und Migrationsforschung zwei Drittel der Projekte im Bundesprogramm „Demokratie leben“ angegeben, attackiert worden zu sein – körperlich, durch Hassrede im Internet oder durch Angriffe auf die Gemeinnützigkeit. Gegen den Anti-Rechts-Verein „Fulda stellt sich quer“ lagen im letzten Jahr beispielsweise 30 anonyme Anzeigen beim Finanzamt vor.